Ashoura Lebanon, 2022
5 days with Shia muslims in Nabatieh
Andere Länder. Andere Sitten. Ashoura im Libanon.
2022
Aug
Not now! I'm bleeding.
Als ich in den 1980-er Jahren zum ersten Mal einen Fernsehbericht sah, bei dem blutüberströmte Menschen zu hunderten durch die Straßen Teheran’s liefen, wusste ich nicht was das soll. Was mich noch mehr verwirrt hat war die Tatsache, dass diese Menschen in weißen Gewändern sich immer wieder mit Macheten auf den Kopf schlugen und sich die Verletzungen offensichtlich selbst zufügten. Da sitzt man nun als 10-jähriger vorm Fernseher und fragt sich: “Was ist denn da los?”.
Jetzt, über 30 Jahre später hat mich die Neugier erneut gepackt und ich wollte rausfinden was es mit diesem Ritual auf sich hat. In den 80-ern war es offensichtlich noch ein großes Thema, wenn sich Menschen selbst den Schädel einschlagen. Heutzutage sieht man davon im TV nichts mehr – es sei denn man schaut gezielt nach einer Dokumentation, aber selbst da wirds dünn.
Meine Recherchen ließen mich dann etwas detaillierter in die Geschichte des Islam eintauchen, genauer gesagt in die, der schiitischen Muslime. Kurz gesagt geht es bei Ashoura (oder auch Ashura genannt), um das Gedenken an Husayn ibn Ali – Imam Husain (Enkel des Propheten Mohammed) – der in der Schlacht von Kerbala als Märtyrer gefallen ist. Im Jahre 680, am 10. Tag des ersten Monats im islamischen Kalender (10th. day of Muharram) kam es zu einer Schlacht im irakischen Kerbala, in der nicht nur Husain, sondern auch sein Halbbruder Abbas, zwei seiner Söhne im Kindesalter und viele seiner Weggefährten getötet wurden.
Der Schlacht voraus ging eine lange Belagerung, welche dazu führte, dass Husain und seine Truppen mehr und mehr geschwächt waren aufgrund von fehlender Nahrung und ausreichend Wasser. Das ist auch der Grund dafür, dass während dieser 10 Tage in der heutigen Zeit, jedem Menschen der sich in dem Einzugsgebiet befindet wo an Imam Husain gedacht wird, kostenlose Getränke und Nahrungsmittel gereicht werden. Wer also während der ersten 10 Tage des islamischen Kalenders in Gebieten unterwegs ist, in denen hauptsächlich Schiiten leben, braucht sich um die Grundversorgung keine Sorgen machen. Doch dazu später etwas mehr.
Die Planung
Nachdem ich nun also rausgefunden habe, was es mit dieser Zeremonie auf sich hat, musste ich mich entscheiden, wo ich dem Spektakel beiwohnen möchte.
Klar, Städte wie z.B. Ghom im Iran – eine Hochburg der Schiiten – oder natürlich Kerbala im Irak – die heiligste Stätte für Schiiten – lagen einfach auf der Hand. Ich habe mich dennoch dagegen entschieden. Warum? Ganz einfach: Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, das ich einen Monat später definitiv im Irak sein würde, um u.a. an Arba’een teilzunehmen – der weltweit größten Zusammenkunft von Pilgern, die gemeinsam zu Fuß nach Kerbala laufen, um den Imam Husain Schrein zu besuchen. Iran wollte ich mir für etwas aufheben, was bislang auch nicht ohne weiteres möglich gewesen ist. Iran selbst ist ja fast schon vom Overtourism betroffen – ok, so schlimm ist es noch nicht, aber dennoch. Wie ich nämlich erst kürzlich erfahren habe, erlauben es die Taliban wieder, Touristen ins Land zu lassen. Da mir bei meiner letzten Afghanistanreise ein Grenzübertritt in Nimruz verwehrt wurde, möchte ich das nun möglichst bald nachholen und Iran über den Süden erreichen.
Die Ironie an der Geschichte ist: damals hieß es, “Helmand and Nimruz is almost completely under Taliban control, you can’t go there.” Jetzt ist es so: es ist immer noch alles unter Kontrolle der Taliban, aber da sie das ganze Land kontrollieren und dringend auf Touristen angewiesen sind, ist es plötzlich möglich jede Provinz Afghanistans zu besuchen und sogar Grenzübergänge wie Torkham oder Spin Buldak zu nutzen. Zumindest sagen sie das selbst.
Seit meinem letzten Besuch pflege ich gute Kontakte in das Land und konnte so einen “official letter of invitation” bekommen, der es mir ermöglicht, durchs ganze Land zu reisen ohne Probleme an Checkpoints zu bekommen – zumindest nicht an Taliban Checkpoints.
Aktuell ist das noch ne ziemlich große Sache, finde ich. Mag sein, dass sich das in der nächsten Zeit ändert und Tourismus wieder problemlos für alle funktioniert, aber vermutlich ist es spätestens dann für mich nicht mehr so interessant.
Moment mal, ich schweife ab…Ashoura ist doch das Thema. Ich habe mich also anstatt für Iran oder Irak für den Libanon entschieden. Um ehrlich zu sein war der Libanon bis zum Zeitpunkt meiner Reise für mich nur als Ausgangspunkt für eine Reise nach Syrien interessant, zu dem Zeitpunkt als der Flughafen in Damaskus noch geschlossen war und man über den Landweg fahren musste.
In den 1950er und 1960er Jahren noch als “Schweiz des Nahen Ostens” bekannt, ist der Libanon heute ein von Korruption und Misswirtschaft gezeichnetes Land. Die Explosion im Hafen von Beirut 2020 hat dann das Fass zum überlaufen gebracht und landesweite Proteste ausgelöst.
Die Bevölkerung leidet unter Hyperinflation, der Schmuggel über die syrische Grenze blüht und alle die einen gewissen Einfluss und Namen haben, profitieren von der Misere. Nachdem der Anbau von Cannabis immer mehr eingeschränkt wurde, eröffnete sich ein neues Geschäftsfeld für die Menschen – Captagon. Eine synthetische Droge, deren Wirkung mit Amphetamin zu vergleichen ist. Der Libanon ist Spitzenreiter in der Produktion und versorgt einen Großteil des Nahen Ostens damit.
Da ich mich ausschließlich im südlichen Teil des Landes aufhalten wollte, galt meine Recherche insbesondere diesem Gebiet. Alles was südlich des Litani rivers gelegen ist, kann man offiziell nur mit einer Genehmigung des libanesischen Militärs besuchen, da dieses Gebiet von UN Truppen kontrolliert wird. Nabatieh liegt zwar etwas nördlich des Flusses, aber da ich es mir nicht entgehen lassen wollte auch die Grenzregion zu Palästina zu besuchen, war diese Genehmigung scheinbar etwas, womit ich mich beschäftigen musste. Erfahrungsgemäß ist die Erteilung von solcher Art Genehmigungen oft mit viel Zeit verbunden und der Tagesform, bzw. Laune des zuständigen Beamten. Auch wenn in diesem Fall die Erteilung problemlos funktionieren sollte, zumindest wurde mir das vorher gesagt – sind das einfach Dinge, die man lieber vermeiden möchte, um seine begrenzte Zeit sinnvoller nutzen zu können.
Zumal ich auch noch nicht wusste, wie ich am besten vom Flughafen in Beirut nach Nabatieh komme, entschied ich mich dazu mir zumindest für die ersten beiden Tage vorab einen Fahrer zu organisieren. Eine gute Idee, wie sich noch rausstellen sollte. Eine Unterkunft war ebenfalls problemlos über airbnb zu finden.
Die Basics über Land und Leute hatte ich verinnerlicht, ein kurzer geschichtlicher Abriss über Ashoura und die Schiiten selbst war ebenfalls erledigt, ein Fahrer war organisiert – es konnte also losgehen.
Vor Ort
In Beirut angekommen begrüßte mich mein Fahrer und nachdem die ersten wichtigen organisatorischen Dinge, wie local SIM Card und einheimische Währung auf dem Schwarzmarkt tauschen abgeschlossen waren, konnte es losgehen.
Ganz wichtig: Unbedingt Dollar oder Euro mitbringen und die dann auf dem Schwarzmarkt tauschen. Denn: der offizielle Kurs, zum Zeitpunkt meiner Reise, lag bei 1$ = 1500 LBP. Der Kurs auf dem Schwarzmarkt liegt durch die Hyperinflation jedoch bei 1$ = 31000 LBP. Das bedeutet auch, das man auf keinen Fall irgendwo mit Kreditkarte zahlen sollte, weil dort nach offiziellem Kurs abgerechnet wird. Dann wird aus einem 5$ Mittagessen ganz schnell ein 100$ Essen.
Bevor es nach Nabatieh ging, gabs ein wenig Sightseeing in Beirut. Hauptsächlich durch den südlichen Teil der Stadt – Dahieh. Weil ich mir anschauen wollte aus welchem Grund Reisewarnungen bestehen, die sagen man solle diesen Teil der Stadt unbedingt meiden. Inoffizielle Entwarnung von mir: alles fein.
Vermutlich liegt es daran, das dort die Hisbollah das Sagen hat, aber ganz ehrlich…so richtig kriegt man davon nix mit. Klar hängen überall Plakate und Flaggen mit deren Logo. Entlang jeder Straße gibt es die üblichen Märtyrerfotos von gefallenen Soldaten etc. Aber da kommt niemand und macht Mitgliedsausweis-Kontrolle. Ich bin sogar ne Runde um deren Headquarter gefahren – ein großer Betonbunker mitten in den Wohnblocks. Darüber gibt es ne Menge Geschichten, die sich die Leute erzählen. Es sollen unterirdische Gänge existieren, eine Stadt unter der Stadt. Man muss ja vorbereitet sein, falls ein größerer Angriff droht.
Na ja, auch wenn das alles sehr interessant ist – bei meinem jetzigen Besuch gings ja um was ganz anderes. Tag 1 habe ich mir aber bewusst für ein paar Dinge reserviert, die ich neben Ashoura, auch gerne sehen wollte. Dazu zählten Dahieh, der Hafen von Beirut und Fatima Gate, bzw. die Grenze zu Palästina. All das war, wie geplant, innerhalb eines Tages erledigt.
Eine Genehmigung für den grenznahen Bereich im Süden benötigte ich übrigens nicht. Andere Quellen sagen, man müsse sich diese Genehmigung erst in Sidon besorgen. In meinem Fall half ein kleiner Tip von meinem Fahrer ca. 50m vor dem Checkpoint: “Everything will be fine. Just act like a normal Lebanese: unbuckle your seat belt and relax in your seat!” Und siehe da…gelangweilter Blick, gechillte Pose, kurz gegrüßt…das war meine Genehmigung.
So kommt man also problemlos durch die Checkpoints und kann sich auch die Grenzmauer im Süden anschauen. Auf freier Strecke dort anhalten ist dann aber doch keine so gute Idee, da alle hundert Meter ein riesiger Turm der Israelis steht, der mit Überwachungstechnik so hochgerüstet ist, das man sich kaum traut auch nur im Vorbeifahren irgendwas zu sagen oder seinen Kopf aus dem Fenster zu hängen.
Am späten Nachmittag gings dann nach Nabatieh in meine Unterkunft. Das kleine Haus war ein echter Glücksgriff und befand sich direkt im Zentrum der Stadt. Mein Gastgeber begrüßte mich überschwänglich und stellte mich seiner Frau vor. Anschließend bekam ich eine Führung durch jeden einzelnen Raum des kleinen Häuschens. Die Kommunikation verlief meist mit Händen und Füßen.
Falls es mal etwas komplizierter wurde, half die Google Translator App – dank der ich die Dame des Hauses übrigens vor dem sicheren Tod bewahrt habe – na ja, oder zumindest mittelschweren inneren Verletzungen der Speiseröhre. Ich schien wohl qualifiziert genug, ihr eine Auskunft geben zu können, weil sie erkannt hat, dass auf einer großen Packung Tabletten, bzw. Tabs, deutsche Schrift zu erkennen war. Ihr Mann kam ebenfalls hinzu und schilderte das Problem: anscheinend war man sich der Anwendung nicht sicher, wusste aber das es wohl zur Zahnreinigung bestimmt war. Im Prinzip gings darum, ob man es gurgeln, nur spülen oder schlucken soll. Als ich eindringlich darauf hinwies, dass es sich um Gebissreiniger handelt und das Zeug keinesfalls zur inneren Anwendung bestimmt ist, war die Erleichterung doch groß zum Glück nochmal jemanden gefragt zu haben, der wenigstens die Verpackungsangaben lesen kann.
Obwohl Ashoura noch 3 Tage entfernt war, wurden bereits seit 7 Tagen, bzw. Abenden, in Nabatieh Feierlichkeiten abgehalten. So auch an diesem Tag, weshalb mich mein Gastgeber einlud, am Abend mit ihm die Moschee zu besuchen und den hiesigen Feierlichkeiten beizuwohnen. Da ich mittlerweile aber seit ca. 38 Stunden auf den Beinen war, lehnte ich schweren Herzens ab, versprach aber dies an den kommenden Tagen nachzuholen.
So geil die zentrale Lage der Unterkunft auch war, für einen ruhigen Schlaf ist sie während Ashoura nicht geeignet – zumindest nicht zwischen ca. 20:00 und 0:30 Uhr. Lautsprecher übertragen die Predigt aus der “Husseinieh” – der zentralen Moschee in Nabatieh. Mehrere