Ashoura Lebanon, 2022

5 days with Shia muslims in Nabatieh

Andere Länder. Andere Sitten. Ashoura im Libanon.

2022

Aug

Rating
85
Fotografie
50
Entdeckergeist
60
Militärpräsenz
90
Korruption
Location

Not now! I'm bleeding.

Als ich in den 1980-er Jahren zum ersten Mal einen Fernsehbericht sah, bei dem blutüberströmte Menschen zu hunderten durch die Straßen Teheran’s liefen, wusste ich nicht was das soll. Was mich noch mehr verwirrt hat war die Tatsache, dass diese Menschen in weißen Gewändern sich immer wieder mit Macheten auf den Kopf schlugen und sich die Verletzungen offensichtlich selbst zufügten. Da sitzt man nun als 10-jähriger vorm Fernseher und fragt sich: “Was ist denn da los?”.

 

Jetzt, über 30 Jahre später hat mich die Neugier erneut gepackt und ich wollte rausfinden was es mit diesem Ritual auf sich hat. In den 80-ern war es offensichtlich noch ein großes Thema, wenn sich Menschen selbst den Schädel einschlagen. Heutzutage sieht man davon im TV nichts mehr – es sei denn man schaut gezielt nach einer Dokumentation, aber selbst da wirds dünn.

 

Meine Recherchen ließen mich dann etwas detaillierter in die Geschichte des Islam eintauchen, genauer gesagt in die, der schiitischen Muslime. Kurz gesagt geht es bei Ashoura (oder auch Ashura genannt), um das Gedenken an Husayn ibn Ali – Imam Husain (Enkel des Propheten Mohammed) – der in der Schlacht von Kerbala als Märtyrer gefallen ist. Im Jahre 680, am 10. Tag des ersten Monats im islamischen Kalender (10th. day of Muharram) kam es zu einer Schlacht im irakischen Kerbala, in der nicht nur Husain, sondern auch sein Halbbruder Abbas, zwei seiner Söhne im Kindesalter und viele seiner Weggefährten getötet wurden.

 

Der Schlacht voraus ging eine lange Belagerung, welche dazu führte, dass Husain und seine Truppen mehr und mehr geschwächt waren aufgrund von fehlender Nahrung und ausreichend Wasser. Das ist auch der Grund dafür, dass während dieser 10 Tage in der heutigen Zeit, jedem Menschen der sich in dem Einzugsgebiet befindet wo an Imam Husain gedacht wird, kostenlose Getränke und Nahrungsmittel gereicht werden. Wer also während der ersten 10 Tage des islamischen Kalenders in Gebieten unterwegs ist, in denen hauptsächlich Schiiten leben, braucht sich um die Grundversorgung keine Sorgen machen. Doch dazu später etwas mehr.

Die Planung

Nachdem ich nun also rausgefunden habe, was es mit dieser Zeremonie auf sich hat, musste ich mich entscheiden, wo ich dem Spektakel beiwohnen möchte.
Klar, Städte wie z.B. Ghom im Iran – eine Hochburg der Schiiten – oder natürlich Kerbala im Irak – die heiligste Stätte für Schiiten – lagen einfach auf der Hand. Ich habe mich dennoch dagegen entschieden. Warum? Ganz einfach: Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, das ich einen Monat später definitiv im Irak sein würde, um u.a. an Arba’een teilzunehmen – der weltweit größten Zusammenkunft von Pilgern, die gemeinsam zu Fuß nach Kerbala laufen, um den Imam Husain Schrein zu besuchen. Iran wollte ich mir für etwas aufheben, was bislang auch nicht ohne weiteres möglich gewesen ist. Iran selbst ist ja fast schon vom Overtourism betroffen – ok, so schlimm ist es noch nicht, aber dennoch. Wie ich nämlich erst kürzlich erfahren habe, erlauben es die Taliban wieder, Touristen ins Land zu lassen. Da mir bei meiner letzten Afghanistanreise ein Grenzübertritt in Nimruz verwehrt wurde, möchte ich das nun möglichst bald nachholen und Iran über den Süden erreichen.

 

Die Ironie an der Geschichte ist: damals hieß es, “Helmand and Nimruz is almost completely under Taliban control, you can’t go there.” Jetzt ist es so: es ist immer noch alles unter Kontrolle der Taliban, aber da sie das ganze Land kontrollieren und dringend auf Touristen angewiesen sind, ist es plötzlich möglich jede Provinz Afghanistans zu besuchen und sogar Grenzübergänge wie Torkham oder Spin Buldak zu nutzen. Zumindest sagen sie das selbst.
Seit meinem letzten Besuch pflege ich gute Kontakte in das Land und konnte so einen “official letter of invitation” bekommen, der es mir ermöglicht, durchs ganze Land zu reisen ohne Probleme an Checkpoints zu bekommen – zumindest nicht an Taliban Checkpoints.

 

Aktuell ist das noch ne ziemlich große Sache, finde ich. Mag sein, dass sich das in der nächsten Zeit ändert und Tourismus wieder problemlos für alle funktioniert, aber vermutlich ist es spätestens dann für mich nicht mehr so interessant.

Moment mal, ich schweife ab…Ashoura ist doch das Thema. Ich habe mich also anstatt für Iran oder Irak für den Libanon entschieden. Um ehrlich zu sein war der Libanon bis zum Zeitpunkt meiner Reise für mich nur als Ausgangspunkt für eine Reise nach Syrien interessant, zu dem Zeitpunkt als der Flughafen in Damaskus noch geschlossen war und man über den Landweg fahren musste.


In den 1950er und 1960er Jahren noch als “Schweiz des Nahen Ostens” bekannt, ist der Libanon heute ein von Korruption und Misswirtschaft gezeichnetes Land. Die Explosion im Hafen von Beirut 2020 hat dann das Fass zum überlaufen gebracht und landesweite Proteste ausgelöst.

 

Die Bevölkerung leidet unter Hyperinflation, der Schmuggel über die syrische Grenze blüht und alle die einen gewissen Einfluss und Namen haben, profitieren von der Misere. Nachdem der Anbau von Cannabis immer mehr eingeschränkt wurde, eröffnete sich ein neues Geschäftsfeld für die Menschen – Captagon. Eine synthetische Droge, deren Wirkung mit Amphetamin zu vergleichen ist. Der Libanon ist Spitzenreiter in der Produktion und versorgt einen Großteil des Nahen Ostens damit.

 

Da ich mich ausschließlich im südlichen Teil des Landes aufhalten wollte, galt meine Recherche insbesondere diesem Gebiet. Alles was südlich des Litani rivers gelegen ist, kann man offiziell nur mit einer Genehmigung des libanesischen Militärs besuchen, da dieses Gebiet von UN Truppen kontrolliert wird. Nabatieh liegt zwar etwas nördlich des Flusses, aber da ich es mir nicht entgehen lassen wollte auch die Grenzregion zu Palästina zu besuchen, war diese Genehmigung scheinbar etwas, womit ich mich beschäftigen musste. Erfahrungsgemäß ist die Erteilung von solcher Art Genehmigungen oft mit viel Zeit verbunden und der Tagesform, bzw. Laune des zuständigen Beamten. Auch wenn in diesem Fall die Erteilung problemlos funktionieren sollte, zumindest wurde mir das vorher gesagt – sind das einfach Dinge, die man lieber vermeiden möchte, um seine begrenzte Zeit sinnvoller nutzen zu können.

 

Zumal ich auch noch nicht wusste, wie ich am besten vom Flughafen in Beirut nach Nabatieh komme, entschied ich mich dazu mir zumindest für die ersten beiden Tage vorab einen Fahrer zu organisieren. Eine gute Idee, wie sich noch rausstellen sollte. Eine Unterkunft war ebenfalls problemlos über airbnb zu finden.

 

Die Basics über Land und Leute hatte ich verinnerlicht, ein kurzer geschichtlicher Abriss über Ashoura und die Schiiten selbst war ebenfalls erledigt, ein Fahrer war organisiert – es konnte also losgehen.

Beirut Port

Remains of the silos

Wall

Lebanon - Palestine

Nabatieh

AirBnB

Vor Ort

In Beirut angekommen begrüßte mich mein Fahrer und nachdem die ersten wichtigen organisatorischen Dinge, wie local SIM Card und einheimische Währung auf dem Schwarzmarkt tauschen abgeschlossen waren, konnte es losgehen.

 

Ganz wichtig: Unbedingt Dollar oder Euro mitbringen und die dann auf dem Schwarzmarkt tauschen. Denn: der offizielle Kurs, zum Zeitpunkt meiner Reise, lag bei 1$ = 1500 LBP. Der Kurs auf dem Schwarzmarkt liegt durch die Hyperinflation jedoch bei 1$ = 31000 LBP. Das bedeutet auch, das man auf keinen Fall irgendwo mit Kreditkarte zahlen sollte, weil dort nach offiziellem Kurs abgerechnet wird. Dann wird aus einem 5$ Mittagessen ganz schnell ein 100$ Essen.

 

Bevor es nach Nabatieh ging, gabs ein wenig Sightseeing in Beirut. Hauptsächlich durch den südlichen Teil der Stadt – Dahieh. Weil ich mir anschauen wollte aus welchem Grund Reisewarnungen bestehen, die sagen man solle diesen Teil der Stadt unbedingt meiden. Inoffizielle Entwarnung von mir: alles fein.

 

Vermutlich liegt es daran, das dort die Hisbollah das Sagen hat, aber ganz ehrlich…so richtig kriegt man davon nix mit. Klar hängen überall Plakate und Flaggen mit deren Logo. Entlang jeder Straße gibt es die üblichen Märtyrerfotos von gefallenen Soldaten etc. Aber da kommt niemand und macht Mitgliedsausweis-Kontrolle. Ich bin sogar ne Runde um deren Headquarter gefahren – ein großer Betonbunker mitten in den Wohnblocks. Darüber gibt es ne Menge Geschichten, die sich die Leute erzählen. Es sollen unterirdische Gänge existieren, eine Stadt unter der Stadt. Man muss ja vorbereitet sein, falls ein größerer Angriff droht.

 

Na ja, auch wenn das alles sehr interessant ist – bei meinem jetzigen Besuch gings ja um was ganz anderes. Tag 1 habe ich mir aber bewusst für ein paar Dinge reserviert, die ich neben Ashoura, auch gerne sehen wollte. Dazu zählten Dahieh, der Hafen von Beirut und Fatima Gate, bzw. die Grenze zu Palästina. All das war, wie geplant, innerhalb eines Tages erledigt.

 

Eine Genehmigung für den grenznahen Bereich im Süden benötigte ich übrigens nicht. Andere Quellen sagen, man müsse sich diese Genehmigung erst in Sidon besorgen. In meinem Fall half ein kleiner Tip von meinem Fahrer ca. 50m vor dem Checkpoint: “Everything will be fine. Just act like a normal Lebanese: unbuckle your seat belt and relax in your seat!” Und siehe da…gelangweilter Blick, gechillte Pose, kurz gegrüßt…das war meine Genehmigung.

 

So kommt man also problemlos durch die Checkpoints und kann sich auch die Grenzmauer im Süden anschauen. Auf freier Strecke dort anhalten ist dann aber doch keine so gute Idee, da alle hundert Meter ein riesiger Turm der Israelis steht, der mit Überwachungstechnik so hochgerüstet ist, das man sich kaum traut auch nur im Vorbeifahren irgendwas zu sagen oder seinen Kopf aus dem Fenster zu hängen.

Beirut

Dahieh

Jimmy

German Lebanese Friendship

Young girl's funeral

View from the living room

Am späten Nachmittag gings dann nach Nabatieh in meine Unterkunft. Das kleine Haus war ein echter Glücksgriff und befand sich direkt im Zentrum der Stadt. Mein Gastgeber begrüßte mich überschwänglich und stellte mich seiner Frau vor. Anschließend bekam ich eine Führung durch jeden einzelnen Raum des kleinen Häuschens. Die Kommunikation verlief meist mit Händen und Füßen.

 

Falls es mal etwas komplizierter wurde, half die Google Translator App – dank der ich die Dame des Hauses übrigens vor dem sicheren Tod bewahrt habe – na ja, oder zumindest mittelschweren inneren Verletzungen der Speiseröhre. Ich schien wohl qualifiziert genug, ihr eine Auskunft geben zu können, weil sie erkannt hat, dass auf einer großen Packung Tabletten, bzw. Tabs, deutsche Schrift zu erkennen war. Ihr Mann kam ebenfalls hinzu und schilderte das Problem: anscheinend war man sich der Anwendung nicht sicher, wusste aber das es wohl zur Zahnreinigung bestimmt war. Im Prinzip gings darum, ob man es gurgeln, nur spülen oder schlucken soll. Als ich eindringlich darauf hinwies, dass es sich um Gebissreiniger handelt und das Zeug keinesfalls zur inneren Anwendung bestimmt ist, war die Erleichterung doch groß zum Glück nochmal jemanden gefragt zu haben, der wenigstens die Verpackungsangaben lesen kann.

 

Obwohl Ashoura noch 3 Tage entfernt war, wurden bereits seit 7 Tagen, bzw. Abenden, in Nabatieh Feierlichkeiten abgehalten. So auch an diesem Tag, weshalb mich mein Gastgeber einlud, am Abend mit ihm die Moschee zu besuchen und den hiesigen Feierlichkeiten beizuwohnen. Da ich mittlerweile aber seit ca. 38 Stunden auf den Beinen war, lehnte ich schweren Herzens ab, versprach aber dies an den kommenden Tagen nachzuholen.

 

So geil die zentrale Lage der Unterkunft auch war, für einen ruhigen Schlaf ist sie während Ashoura nicht geeignet – zumindest nicht zwischen ca. 20:00 und 0:30 Uhr. Lautsprecher übertragen die Predigt aus der “Husseinieh” – der zentralen Moschee in Nabatieh. Mehrere Transporter und Pickup Trucks fahren durch die Straßen, auf deren Anhängern sind große Soundanlagen installiert, über welche die Menge, die durch die Straßen läuft, angeheizt wird.

 

Vor 1:00 Uhr nachts war an Schlaf also nicht zu denken. Der fiel dann – wenn auch etwas verspätet – dafür umso erholsamer aus. Am Morgen gabs dann Tee und Obst zum Frühstück, visuell begleitet durch den Trauerzug für ein junges Mädchen, den ich durchs Fenster beobachten konnte.

Ashoura in Nabatieh

Es war Sonntag, der 8. Tag im ersten Monat des islamischen Kalenders. Noch zwei Tage bis Ashoura Day – was also tun? Was mir bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht richtig bewusst war: die Feierlichkeiten finden nicht ausschließlich am 10. Tag statt. Will heißen, von Tag 1 bis Tag 9 findet hauptsächlich ab spätem Nachmittag bis zum Abend hin eine Art Straßenumzug statt. Das ganze hat ein bisschen was von St. Martin Laternenfesten – für mein ungeübtes Auge. Das hat hauptsächlich damit zu tun, das auf der abgesperrten Straße mehrere kleine Gruppen in unterschiedlicher Besetzung, bzw. Background dem Zug folgen. Das sind nicht nur Männer, die sich immer wieder im gleichen Rhythmus auf die Brust schlagen, während vor ihnen ein PickUp mit Soundsystem fährt, von dem es immer wieder schallt: “Haydar! Haydar!” – was ein Spitzname für Imam Ali ist und soviel bedeutet wie “Löwe”. Das sind auch Gruppen von Kindern, kleine Mädchen und Jungen die Kerzen vor sich hertragen, Schilder mit Aufschriften die an die Schlacht von Karbala erinnern. Das sind auch die “Mahdi Scouts”, die Jugendbewegung der Hisbollah, die ganz stolz ihre Uniform tragen und Fahnen schwenken. Verstorbene werden über den Köpfen auf einer Trage durch die Menge getragen, während die Menschen Blumen auf den Körper werfen.

 

Die Straße wird gesäumt von Zuschauern, die sich auch immer wieder – wenn auch nur leicht – auf die Brust oder den Kopf schlagen, um die Leiden Hussains nachzuempfinden. Ganz Nabatieh ist auf den Beinen während dieser 10 Tage. Die Eltern der Kinder, die beim Umzug mitlaufen, stehen stolz am Straßenrand. Sie winken ihnen zu, rufen ihre Namen und machen Fotos. Das führt nicht selten dazu, dass einige der Kids die Veranstaltung für sich als beendet erklären, aus der Formation ausbrechen und zu ihren gerade gesichteten Eltern rennen.

 

Jimmy und ich sahen uns das Spektakel aus der ersten Reihe an. Ich war völlig fasziniert von der ganzen Stimmung. Es ist eine merkwürdige Mischung – einerseits ist der Anlass ja ein trauriger, andererseits steht jedem Anwesenden eine große Begeisterung ins Gesicht geschrieben und alle sind irgendwie glücklich, ein Teil davon sein zu dürfen.

 

Gegen 22:00 Uhr tippte Jimmy mich an und sagte: “Come, we go to the mosque.” 10 min. später saßen wir mit über 100 anderen Männern im Innenhof der “Husseinieh”, der zentralen Moschee. Es wurde Tee und Wasser gereicht. Vor uns aufgebaut war ein großer Screen, der die Predigt aus dem Inneren des Heiligtums überträgt.

 

Mein arabisch hält sich doch sehr in Grenzen, weshalb es schwierig war, dem gesprochenen Wort zu folgen. In diesem Fall war es aber gar nicht so schlimm. Zunächst hielt der Imam eine relativ kurze Predigt von der Minbar. Danach gabs einen Kamerawechsel – zu sehen war: ein leerer Sessel. Na, das versprach ja spannend zu werden. Nach ein paar Minuten erschien ein, doch recht junger, hoher Geistlicher mit einer weißen Imamah auf dem Kopf. Bedächtig und mit langsamen Bewegungen nahm er in dem Sessel Platz. Das rechte Bein angewinkelt und den Fuß unter seinen linken Oberschenkel gesteckt. In einer Pose, in der manch anderer vielleicht seine Lieblingsserie schaut, saß er nun da und begrüßte mit sanfter Stimme alle Anwesenden. Dann begann er zu erzählen.

2 Abende vor Ashoura

Letztes Geleit

Diversity

Alle dürfen mitmachen

Husseinieh

Moschee in Nabatieh

Da muss ich sagen, sowas habe ich in der Form auch noch nicht erlebt. Innerhalb von ca. 45 min. redete er nicht nur sich, sondern auch alle Anwesenden, in einen Zustand absoluter Trauer und Demütigkeit. Kennt man die Geschichte der Schlacht von Karbala, ist es nicht so schlimm, das man nicht viel versteht – im Prinzip geht es um Details aus Hussains Leben und der Schlacht selbst. Und eben diese Details hat er mit soviel Empathie und Sprachgefühl vorgetragen, dass fast alle Anwesenden in kollektiver Trauer ausgebrochen sind. Damit meine ich: es wurde nicht geseufzt oder mal tief Luft geholt…gestandene Männer mit tätowierten Oberarmen, die so dick wie meine Oberschenkel waren brachen in Tränen aus, als gäbe es kein Morgen.

 

Von nun an wurden, neben Tee und Wasser, auch Taschentücher gereicht – und das nicht zu knapp. Es hörte gar nicht mehr auf. Der Imam erzählte tränenüberströmt immer schlimmere Geschichten und mit jeder Einzelheit gab es mehr Tränen und Heulkrämpfe unter den Anwesenden.

 

Eine gewisse Unsicherheit machte sich in mir breit. Ich schaute mich um und war tatsächlich der Einzige, der nicht geweint hat – aber ehrlich gesagt: ich war kurz davor. Nicht wegen der Geschichte, die ich sowieso nicht im Detail verstanden habe, vielmehr aus Sympathie. Erstaunlicherweise war die Trauer bei allen schnell wieder verflogen, nachdem sich der Imam in den wohlverdienten Feierabend verabschiedet hat. Wir verließen die Moschee und gingen nach Hause.

 

Der kommende Tag versprach etwas Abwechslung, zumindest was meine Begleitung anging. Jimmy “hatte Rücken”. Seine Knie waren auch schon ziemlich morsch und lange stehen war für ihn nicht drin. Obwohl ich ihm sagte er müsse mich ohnehin nicht begleiten, weil es zum einen nicht notwendig ist und zum zweiten er ja nur mein Host ist, hieß es plötzlich: Keine Widerrede, haben wir intern schon alles geklärt. Du gehst alleine mit meiner Frau und ich komme später zur Moschee. Der Einzige, der überrascht war, war ich. Seine Frau war wohl schon länger in das Vorhaben eingeweiht und war richtig happy, dass es mal was anderes zu tun gibt, als die tägliche Routine.

 

Abends traf ich dann Jimmy in der Moschee wieder und das Spiel begann von vorne. Am letzten Tag vor Ashoura wurde vom Imam noch mal richtig einer rausgeholt, was die Geschichten anging, die er erzählte. Ein Meer an Tränen füllte den Innenhof der Moschee, doch das sollte sich am kommenden Tag ändern.

The 10th day of Muharram

Ich hatte das Gefühl, mittlerweile schon fast ein Teil der Familie zu sein. Das verstärkte sich insbesondere dadurch, das quasi ohne Vorwarnung meine Tür aufging und Jimmy Bescheid gab, dass das Frühstück gleich fertig sei.


Ich konnte das Funkeln in seinen Augen deutlich sehen – auch er freute sich wohl irgendwie darauf, gemeinsam mit mir Ashoura erleben zu dürfen.
Nach dem Frühstück nutzte ich die Zeit bis zum Mittag, wo es dann endlich losgehen sollte damit, meiner Kellerbräune mit libanischer Sonne etwas entgegenzuwirken. Hieß in dem Fall: Vor dem Hauseingang sitzen und mit bis zu den Knien hochgekrempelter Hose die Blicke der Nachbarschaft auf mich zu ziehen.


Ich beobachtete das Treiben in der schmalen Gasse, während sich die UV-Strahlung ihren Weg durch meine ALF-Strumpfhose bahnte. Nach und nach kamen auch Menschen zu unserem Haus, die ich bisher nicht kannte. Alle mit weißem Gewand und Macheten.


Sie wurden mir abwechselnd vorgestellt, als Onkels, Cousins, Freunde und und und. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Jimmy’s Haus war die letzte Station, bevor sich alle ins Getümmel stürzen. Ein kurzer Schnack, ein Gläschen Tee, dann gingen sie wieder.
Irgendwann gegen Mittag machten auch wir uns auf den Weg. Keine 2 Minuten Fußweg vom Haus war der Checkpoint, den wir passieren mussten, um ins Zentrum zu kommen. Diese Checkpoints werden natürlich von der Hisbollah betrieben und dienen der Sicherheit aller Anwesenden.
Ich hatte die Tage vorher schon gesehen, wie streng dort kontrolliert wird. Aus diesem Grund habe ich mein 200mm Objektiv lieber im Haus gelassen – man will ja nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen als unbedingt notwendig.


Kurz nachdem wir losgegangen waren meinte Jimmy zu mir: „Where is your big lens?“ Ich erklärte ihm meine Bedenken. Daraufhin sagte er, dass das kein Problem sei. Er kennt die Leute und würde das für mich regeln. Hm, ok. Also, nochmal zurück Objektiv holen.


Ich weiß, der Vergleich hinkt ein wenig, aber mit dem großen Objektiv im Rucksack am Checkpoint hatte ich ein bisschen das Gefühl, als würde man versuchen am Flughafen verbotene Sachen mit an Bord zu schmuggeln.
Der Typ am Checkpoint war natürlich auch bas erstaunt, ob des überdimensionalen Okulars. Jimmy übernahm die Verhandlungen, aber anscheinend überstieg das Genehmigungsverfahren den Dienstrang des Security-Typs in der Hierarchie.
Wir wurden zur Seite gebeten, um zu warten, während mein Anliegen per Funkgerät an jemand höhergestellten kommuniziert wurde. Kurz darauf wurden wir von drei Hissbolah Leuten durch ein paar Seitenstraßen geführt, bis wir zu einem anderen Checkpoint kamen.


Dort wurden wir begrüßt von jemandem der – zumindest für mich – so aussah, als könne er entscheiden ob ich der Zeremonie mit oder ohne großem Objektiv beiwohnen darf. Es wurden ein paar Worte gewechselt und ich erhielt hochoffiziell die Genehmigung alles zu fotografieren was ich gerne möchte.
Klar, da spielt sicher auch ein gewisser Stolz eine Rolle, das jemand wie ich extra wegen diesem Event so weit hierher reist. Man zeigt ja gerne was man zu bieten hat. Jimmy’s gute Kontakte waren aber ausschlaggebend, denke ich.


Mit dieser Genehmigung fühlte ich mich auch deutlich wohler und sicherer unter all den Teilnehmenden. Es ist nicht so, dass dort niemand Fotos macht, im Gegenteil. Alles wird mit Handy dokumentiert. Aber Handy ist eben Handy und 200mm Objektiv ist eben 200mm Objektiv.
Jeder wusste, dass wenn ich mit dem Ding Fotos mache, ich das nur mit Erlaubnis machen darf. Deshalb war niemand dabei, der das irgendwie in Frage gestellt hat…was mir natürlich in die Karten spielte, wenn es um gute Fotos ging.


Die einzigen, die ansatzweise ähnliches Equipment mit sich führten, waren Leute von einem lokalen Fernsehsender, der alles live übertragen hat. Was eigentlich ganz witzig war, weil sie mich als eine Art Kollegen wahrgenommen haben, als sie mich sahen und immer wieder grüßten.

 

Akkreditiert und gut gelaunt war unser erster Anlaufpunkt wieder die Moschee. Dort gab es statt der Tränen am Vorabend einen blutüberströmten Innenhof. Hauptsächlich junge Männer im Alter von etwa 20 bis 35 Jahren schlugen immer wieder mit Macheten auf ihren Kopf ein.
Allerdings nicht so wie ich ursprünglich dachte. Sieht man es von Weitem oder eben wie ich als Kind im Fernsehen, denkt man die schlagen sich selbst die Rübe ein. Dem ist aber nicht so. Zumindest war es in Nabatieh nicht der Fall.
Ashoura, bzw. die Selbstkasteiung wird überall auf der Welt unterschiedlich vollzogen. Muslime in Pakistan und Indien sind da teilweise – selbst für meinen Geschmack – etwas zu hart. Da wird sich ohne Rücksicht auf Verluste mit scharfen, schweren Klingen, die an einem Stock befestigt sind, der Rücken malträtiert. Was bei – sagen wir mal – unsachgemäßer Verwendung dazu führt, dass der komplette Rücken von oben bis unten einfach in zwei Teile aufplatzt und man das halbe Innenleben sehen kann. Das kann man sich bei Bedarf mal auf YouTube anschauen.


In Nabatieh hingegen lief es etwas gesitteter ab. Mit einem scharfen Rasiermesser wird kurz aber kräftig auf den Teil über der Stirn geschlagen. Das lässt die Kopfhaut aufplatzen und Blut läuft einem sofort in die Augen und das Gesicht.
Die Wunde selbst ist relativ klein. Tut man nichts weiter, würde sie von selbst nach ein paar Minuten einfach heilen. Hier kommen aber die Macheten ins Spiel. Ich dachte bisher immer, man schlägt sich mit der Klinge auf den Kopf. In der Regel ist das jedoch nicht der Fall.
Man nutzt die flache Seite der Machete und haut damit immer wieder auf die offene Wunde, damit sie erst gar keine Chance hat zu verheilen und im Normalfall auch deutlich größer wird.
Das ist eine weit verbreitete Methode, die ich dort oft gesehen habe. Hier und da gab es auch Männer, welche die bereits erwähnten Klingen an Holzstöcken verwendet haben.

 

Nicht nur der Innenhof der Moschee war Schauplatz. Das ganze Zentrum der kleinen Stadt war ein einziges Blutbad, wenn man so will. Familien mit Kindern, ältere Männer und Frauen säumten die Straßen, um dem Event beizuwohnen.
Unterschiedlichste Gruppen liefen durch die Straßen und geißelten sich selbst. Riesige Bilder von Ali Khamenei, dem iranischen Revolutionsführer wurden durch die kleinen Gassen getragen. Auch die Mahdi Scouts waren dabei.


Vereinzelt sah man Rettungskräfte mit Menschen auf einer Trage herumrennen, die ihre Leidensfähigkeit bei 35° wohl etwas überschätzt haben. Für die gab es jedoch überall Zelte, in denen sie medizinisch versorgt werden konnten.

 

Obwohl es in den letzten Jahren mehrere Geistliche gab, welche diese Art Ashoura zu praktizieren ablehnen, wird dem oft nicht nachgekommen. Klar wäre es sinnvoller all das Blut lieber zu spenden, anstatt es in den Straßen zu verschwenden.
Aber auch daran wurde in Nabatieh gedacht. Am Rande des Events stand ein kleines Zelt vom Roten Kreuz, wo man Blut spenden konnte. Ein kurzer Blick hinein suggerierte jedoch, dass man es hier wohl doch eher volkstümlicher angeht – nur zwei Leute waren im Zelt.

 

Ein weiterer fester Bestandteil dieses Tages ist eine große Freiluft Darbietung der Schlacht von Karbala. Direkt vor der Moschee, also im Zentrum der kleinen Stadt, befindet sich ein Schotterplatz auf dem stundenlang bis ins kleinste Detail die Schlacht von Laienschauspielern nachgestellt und über Lautsprecher erzählt wird. Das ist neben all dem martialischem Rest drumherum ein schönes Kontrastprogramm, für all diejenigen, die es etwas ruhiger angehen wollen.

Fazit

Ich hasse es immer, wenn Leute sagen: “Das musst du sehen, ein absoluter Geheimtipp.” Das Wort “Geheimtipp” bezogen auf Reiseziele oder bestimmte Events, ist in allen Fällen der Tod eben solcher. Bestes Beispiel ist Tana Toraja in Indonesien. Noch vor ein paar Jahren hatten nur wenige den sehr speziellen Totenkult der Einheimischen überhaupt beigewohnt. Mittlerweile ist es ein Hotspot für Touristen geworden. Hunderte von Touristen kommen während der Zeit, zu der Oma und Opa nochmal “ausgebuddelt” werden, um sie der Nachwelt zu präsentieren. Ich will nicht sagen, dass es trotz alledem sicher noch immer ein Erlebnis ist, das wohl unvergleichlich ist, aber wie heißt es so schön: “You get my point?”

 

Das erstaunliche an Ashoura ist: Seit dem ich es das erste Mal in den 1980er Jahren gesehen habe, ist es bisher nicht so richtig “fame” geworden, als Touristenattraktion. Das begrüße ich sehr und hoffe es bleibt auch so. Manche Dinge sollten einfach wirklich das bleiben, was sie sind.

 

Meine Erfahrung, die ich im Libanon gemacht habe, ist auf jeden Fall eine unvergessliche. Insbesondere die schiitische Gemeinde in Nabatieh ist großartig und unbedingt eine Reise wert.

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